Bogen [2]

[141] Bogen (Bogenträger) heißen in der Ingenieurmechanik solche ebene Träger, bei denen durch Laden nicht nur vertikale Stützenreaktionen wie bei Balken, sondern auch horizontale Stützenreaktionen entstehen. Einfache Bogen erstrecken sich über eine Oeffnung, durchlaufende (kontinuierliche) Bogen über zwei und mehr durch Stützen getrennte Oeffnungen (vgl. Bogen, einfache und durchlaufende). Die Endauflager eines Bogens heißen Kämpfer und ihre Reaktionen Kämpferreaktionen. Die letzteren sind von gleichen Größen, aber entgegengesetzten Richtungen wie die Drücke des Bogens auf die Kämpfer. Je nachdem die Horizontalkomponenten der durch Belastung entstehenden Kämpferreaktionen nach innen oder nach außen gerichtet sind (Fig. 1 und 2), je nachdem sie die Bogenenden zu nähern oder zu entfernen suchen, hat man es mit einem Sprengbogen oder mit einem Hängebogen zu tun. Wir haben an dieser Stelle insbesondere die ersteren im Auge ( s.a. Ketten, Hängebrücken). Die Horizontalreaktion eines Kämpfers heißt der Horizontalschub daselbst. Für[141] die Ermittlung der Beanspruchungen stabförmiger Bogen, die nicht wie Fachwerke gegliedert (s. Bogenfachwerke), sondern mit voller Wand hergestellt werden, kommen in erster Linie das Angriffsmoment Mx, und die Normalkraft Nx in den einzelnen Querschnitten in Betracht, während die Transversalkraft Tx von geringerer Bedeutung ist und oft ganz unberücksichtigt bleibt. (Vgl. Biegung II, Blechträger). Wir setzen im folgenden voraus, daß nur Lasten oder sonstige vertikale Aktivkräfte am Bogen angreifen.

Man betrachte einen Stababschnitt zwischen zwei aufeinander folgenden Stützen, der bei einfachem Bogen der ganze Stab sein soll. Ein rechtwinkliges Koordinatensystem mit horizontaler x-Achse und vertikaler y-Achse sei in der Trägerebene in fester Lage gegen die ursprüngliche, dem spannungslosen Zustande bei normaler Temperatur entsprechende Gruppierung der Stabpunkte angenommen. Ursprung der Koordinaten in einem Endpunkt der Achse des Stababschnitts; die Koordinaten x, y werden auf die anfängliche Stabachse bezogen und die Querschnitte nach den anfänglichen Abszissen x ihrer Achspunkte bezeichnet, für den zweiten Endpunkt der Stabachse sind x = l, y = k. l heißt die Spannweite. Im Falle gleichhoher Achspunkte bei 0 und l ist k = 0. φ bezeichne den Winkel der anfänglichen Stabachse bei x mit der positiven Richtung der x-Achse.

Zwischen 0 und x mögen bei den Abszissen a1 a2, a3, ... beliebige Lasten P1 P2, P3, ... auf den Träger kommen, wobei die P und die Differenzen der a auch unendlich klein sein können (stetig verteilte Lasten, s. Belastung der Träger). Die Mx, Nx, Tx wie auch die resultierende Schnittkraft Rx und deren Horizontal- und Vertikalkomponente Hx, Vx werden im folgenden für die Fläche links des Querschnitts x ausgedrückt (d.h. wir drücken diejenigen Werte aus, mit denen der Stahlen links von x auf den Stahlen rechts von x wirkt), für die Fläche rechts von x sind die Kräfte und Momente jenen numerisch gleich, aber entgegengesetzt gerichtet. Bei x = 0 und x = l seien die Werte von Mx durch M, M' und diejenigen von Vx durch V,V' bezeichnet. Hx hat für alle Querschnitte denselben Wert wie für x = 0, d.h. Hx = H. Die positiven Richtungen von x, y, φ, H, V, V', Mx, Vx, Nx, Tx sind in Fig. 3 und 4 angedeutet. Man hat dann [10] § 1:


Bogen [2]

Moment und Vertikalkraft in einem beliebigen Querschnitt x:


Bogen [2]

oder auch:


Bogen [2]

Normalkraft (Axialkraft) und Transversalkraft (Querkraft) bei x:


Bogen [2]

wobei Nx für Sprengbogen Druck, für Hängebögen Zug bedeutet (Fig. 3, 4). Den Absolutwert der resultierenden Schnittkraft bestimmt:


Bogen [2]

und den Winkel ihrer Richtung mit der positiven Richtung der x-Achse:


Bogen [2]

Weiter hat man:


Bogen [2]

worin ds das Differential der Achslänge bei x bezeichnet. Alle bis jetzt angeführten Gleichungen gelten auch für Balken (s.d.), in welchem Falle H = 0 ist. Zu beachten hat man, daß in 1.–7. die Grenzen der Summen Σ nicht Punkte, sondern diejenigen Querschnitte bedeuten, zwischen denen die in die betreffenden Summen aufzunehmenden Lasten P auf den Träger kommen. Wollten wir die Koordinaten x, y und die Momente Mx nicht wie oben auf die Stabachse, sondern auf die Angriffspunkte der resultierenden Schnittkräfte Rx beziehen, so würde mit Mx = M = M' = 0 folgen aus 4.:


Bogen [2]

und aus 6.:


Bogen [2]

[142] Dies ist die Gleichung der Stützlinie, die in der Gewölbetheorie eine Rolle spielt; und der Kettenlinien, mit denen man es bei Hängebrücken zu tun hat, für beliebige Belastung.

Ueber die speziellen Ausdrücke der Summen Σ in obiger Gleichung für stetig verteilte Lasten s. Belastung der Träger. Für eine auf die ganze Spannweite gleichmäßig verteilte Last von u ihrer Längeneinheit hat man:


Bogen [2]

x

Dabei ist vorausgesetzt, daß an Stelle der Querschnitte x die Achspunkte x als Summengrenzen angenommen werden dürfen, wie dies für stetig verteilte Lasten im allgemeinen zutrifft.

Auf Grund der oben und unter Biegung II gegebenen Formeln können alle Beanspruchungen vollwandiger Bogen für jede gegebene Belastung berechnet werden ( s.a. Blechträger, Gitterträger), sobald der Horizontalschub H und die Endmomente M, M' bekannt sind [10]. Insbesondere hat man die Normalspannungen in den nach beiden Seiten von der Achsschicht entferntesten Querschnittselementen (zwischen denen die Werte aller andern Normalspannungen des Querschnitts liegen):


Bogen [2]

worin F den nutzbaren Querschnitt, J das Trägheitsmoment desselben, eo, eu die absoluten Entfernungen der fraglichen Querschnittselemente von der Achsschicht bedeuten (Fig. 5, 6). In dem gewöhnlichen Falle symmetrisch zur Achsschicht angeordneter Querschnitte hat man mit eo = eu = e:


Bogen [2]

unter W das Widerstandsmoment des Querschnitts verbanden. Die H, M, M' hängen von der Anzahl der Oeffnungen, Anordnung der Auflager, Einschaltung von Gelenken, Form der Bogenachse, Veränderlichkeit des Querschnitts u.s.w. ab (s. Bogen, einfache und durchlaufende, Bogen mit Zugstange). Erweiterung der Formeln für beliebig geformte Schnitte s anstatt der Querschnitte x im Hinblicke auf Fachwerke s. Schnittkräfte; vgl. a. Fachwerke.

Die größte Spannweite von Bogenträgern besitzt gegenwärtig die Straßenbrücke über den Niagara bei Clifton, vollendet 1898 [14], mit 256,03 m, in Deutschland die Straßenbrücke über den Rhein bei Bonn, eröffnet 1898 [13], mit 187,92 m. Es sind dies Bogenträger mit Kämpfergelenken, während die Wupperbrücke bei Müngsten der Eisenbahnlinie Solingen–Remscheid [12] Bogen ohne Gelenke von 170 m Spannweite aufweist (Obergurt 180 m, Untergurt 160 m). Veranlaßt durch das Vorgehen Seyrigs bei der Maria-Pia-Brücke über den Douro der Eisenbahn Lissabon–Porto von 160 m Spannweite [1], Fig. 7, ist in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Bogen ausgeführt worden, um darüberführenden Balkenträgern Stützpunkte zu bieten und so ohne bis zur Talsohle reichende Zwischenpfeiler in großer Höhe Flüsse und ganze Täler zu überspannen. (Dourobrücke Luis I [3], 172,5 m, Müngstener Brücke [12], Garabitbrücke, Schwarzwasserbrücke u.s.w., Tabelle aller ausgeführten Bogenbrücken von Spannweiten über 100 m s. [14], S. 468, vgl. [16]). Die bisher genannten Bogenträger sind als Fachwerke gegliedert, die größte Spannweite vollwandiger Bogen, 155,23 m, besitzen die Zweigelenkbogen der Straßenbrücke über den Harlem-River in New York [4]. Auch die Gewölbe (Tonnengewölbe für Brücken) sind als vollwandige Bogen anzusehen [2], [8], [10] und werden am zuverlässigsten als solche berechnet [11]. Die größte Lichtweite eines Gewölbes (Betonbogen und Betoneisenbogen eingerechnet) besitzt augenblicklich die neue Straßenbrücke über das Petrustal bei Luxemburg [18], 84 m am Widerlagerfuß, 72 m an den Kämpfern des aufgesetzten Bogens, in Deutschland die Gutachbrücke in Baden [17] mit 64 m. Abgesehen ist bei allen diesen Angaben von Hängebögen, die vor Erbauung der Forthbrücke (1883–1890, s. Gelenkträger, durchlaufende) mit 486,36 m (East-River-Brücke in New York) die größte Spannweiten überhaupt besaßen und mit der von Lindenthal projektierten North-River-Brücke in New York [9] von 944,86 m Spannweite wieder alle andern Träger weit hinter sich lassen würden [16].


Literatur: [1] Seyrig, Le pont sur le Douro, Mémoires de la société des ingénieurs civils 1878,– p. 741. – [2] Müller-Breslau, Elastizitätstheorie der nach der Stützlinie geformten Tonnengewölbe,[143] Zeitschr. für Bauwesen 1886, S. 273. – [3] Seyrig, Mémoire sur le pont-route Luis I à Porto, Mémoires de la société des ingénieurs civils 1886, p. 38. – [4] The Manhattan Bridge over the Harlem River, Engineering 1888, p. 425 (Zeitschr. des Ver. deutscher Ingenieure 1889, S. 1120). – [5] Lindenthal, The economic conditions of long span bridges with special reference to the proposed North River Bridge at New-York City, Pittsburgh 1889. – [6] Handbuch der Ingenieurwissenschaften, Bd. 2, XII Theorie der eisernen Bogenbrücken und Hängebrücken (von Melan), Leipzig 1890. – [7] Mehrtens, Weitgespannte Strom- und Talbrücken der Neuzeit, Zentralblatt der Bauverwaltung 1890, S. 357, 366, 376, 383, 391, 407. – [8] Kulka, Ueber die Berechnung großer gewölbter Brücken, Zeitschr. d. österr. Ing.- und Arch.-Ver. 1894, S. 365, 377.– [9] Lindenthal, Die projektierte Brücke über den Hudson (North-River) bei New York, Annalen für Gewerbe und Bauwesen 1896, II, S. 93, 113. – [10] Weyrauch, Elastische Bogenträger, ihre Theorie und Berechnung entsprechend den Bedürfnissen der Praxis, München 1897. – [11] Weyrauch, Einige Ergebnisse betreffend die Wiener Gewölbeversuche, Zeitschr. für Architektur- und Ingenieurwesen, Wochenausgabe 1897, S. 99, 105. – [12] Rieppel, Die Talbrücke bei Müngsten, Zeitschr. des Ver. deutscher Ingenieure 1897, S. 1321, 1373, 1421. – [13] Krohn, Die neue Rheinbrücke zwischen Bonn und Beuel, Deutsche Bauztg. 1898, S. 645, 657, 669. – [14] Kunz, Die neue Straßenbrücke über den Niagarafluß, Zeitschr. d. österr. Ing.- und Arch.-Ver. 1899, S. 465. – [15] Mehrtens, Der deutsche Brückenbau im 19. Jahrhundert, Berlin 1900 (auch Zeitschr. des Ver. deutscher Ingenieure 1900). – [16] Weyrauch, Ueber die Zunahme der Brückenspannweiten im 19. Jahrhundert, Zeitschr. f. Bauwesen 1901, S. 465, 617. – [17] Moser, Große Steinbrücken im Großherzogtum Baden, Schweiz. Bauztg. 1901, II, S. 271. – [18] Dutreux, Le nouveau pont de Luxembourg, Le génie civil 1901/02, S. 185 (Zentralbl. d. Bauverwaltung 1902, S.461). – Weitere Literatur s. Bogen, einfache und durchlaufende, Bogenfachwerke, Bogen mit Zugstange, Blechträger, wie auch in [4], S. 141, 203, 249.

Weyrauch.

Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 3., Fig. 4.
Fig. 3., Fig. 4.
Fig. 5., Fig. 6.
Fig. 5., Fig. 6.
Fig. 7.
Fig. 7.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 2 Stuttgart, Leipzig 1905., S. 141-144.
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